Wer „den Roman zum Arabischen Frühling“ sucht, hier ist er!

„Die syrischen Feinde“ von Fawwaz Haddad

Verlag: Riad El-Rayyes Books, Beirut 2014

Gemeint ist mit dem Titel sinngemäß: Das Volk ist der Feind. Dieser Roman ist eine epische Abrechnung mit dem systematischen und brutalen Vorgehen der Assad-Armee gegen die eigene Bevölkerung seit 1982. Er ist Dokumentation und Politthriller, Psychogramm eines Verbrechers aus dem engen Kreis des Regimes und ein Familienroman mit glänzend gesetzten Spannungsbögen zugleich. Wer „den Roman zum Arabischen Frühling“ sucht, hier ist er, erzählt aus syrischer Perspektive.

Fawwaz Haddad ist mit diesem Roman auf dem Höhepunkt seiner literarischen Reife angekommen. Wenige seiner Romane sind so konsequent erzählt und keiner enthält so viele Plots wie dieser. Zudem verbirgt sich hinter jeder Wendung in der Handlung eine weitere, neue Ebenen erschließende Entwicklung, so dass die Spannung nur selten absinkt. Haddad gelingt in diesem Werk eine außerordentlich elegante literarische Sprache, deren lyrischer Ton oft in bedrückendem Gegensatz zu den geschilderten Szenen stehen.

Der Rahmen ist wie folgt gesetzt: Ein Volksaufstand in der Stadt Hama im Februar 1982 wird blutig niedergeschlagen (insoweit eine bekannte historische Tatsache), alle in den Trümmern verbliebenen Einwohner werden zum „Schießstand“ geführt und dort umstandslos hingerichtet (auch dies ist belegt). Unter den Festgenommenen befindet sich ein Arzt, der die Familie eines der an den Erschießungen beteiligten Offiziers früher kostenlos behandelt und ihn zum persönlichen Freund erklärt hatte. Der Soldat rettet dem Arzt daher unter Schwierigkeiten das Leben, was aber lediglich bedeutet, dass dieser nun jahrelang ins Gefängnis kommt, dort fast zu Tode gefoltert wird und eine ausgeprägte Schizophrenie entwickelt.

Hauptmann Sulaiman, eine weitere Hauptfigur in Haddads Roman, hat vorher eigenhändig die Familie des Arztes erschossen, als er sie in den Ruinen der zerstörten Stadt antraf; nur durch Zufall überlebt der Säugling in den Armen der Mutter und wird von Fremden zum Ich-Erzähler, einem Anwalt und Bruder des Arztes in Damaskus, gebracht. Sulaiman, ein ferner Verwandter des Präsidenten Hafiz al-Assad, findet keine Ruhe angesichts der Tatsache, dass der Familienvater und sein jüngster Sohn sein Massaker überlebt haben und trachtet auch Jahre später noch danach, beide zu finden und auszulöschen. Er steigt in der Hierarchie des Regimes zunächst beständig auf und gelangt in den engsten Kreis um den Präsidenten. Dies ist auch einem Verrat zu verdanken, den er begangen hat, indem er 1970 einen wiederum verwandten Verschwörer auslieferte, durch welchen Assad seine Machtergreifung absichern konnte.

Verrat und prinzipienlose Führertreue werden zum Markenzeichen Sulaimans, der einst vergeblich versucht hatte, Bauwesen zu studieren. Am Ende wird er damit betraut, auch die Aufstände von 2011 mit Spezialoperationen niederzuschlagen. Hier treten auch der Arzt und sein mittlerweile erwachsener Sohn wieder auf…

Die Szenen von Hama im ersten Teil des Romans wirken wie eine Wiedererstehung des Warschauer Ghettos. Die Bilder sind drastisch, der grenzenlose Zynismus der Armee-Schlächter in jeder Weise bedrückend. Trotz dieser erzählten Atmosphäre ist Haddad hier zuweilen literarischer als in den meisten Teilen des „Blutigen Himmels“, etwa wenn er Landschaften im Morgengrauen beschreibt, deren Poetik einen krassen Kontrast zum Geschehen bildet. Auch sind die Charakterisierungen der Protagonisten einfühlsamer und die Verwickeltheit der Situationen überzeugender als in anderen Romanen des Autors.

Breiten Raum nehmen zudem die Konkurrenz unter verschiedenen Armee- und Geheimdienstabteilungen ein, die wiederum nicht selten zu gegenseitigen Morden führen. Haddad bringt sogar eine selten gekannte Ironie auf, wenn er beschreibt, wie solche Toten im Machtzirkel ihren Familien gegenüber zu Märtyrern erklärt wurden, die angeblich gewissenlosen Islamisten zum Opfer gefallen sind. Um solche Versionen glaubhaft zu machen, werden auch einmal Schulen nach ihnen benannt.

Ein Kontinuum in Haddads Werk begegnet uns auch hier: Die Frage nach Gott. Wer glaubt woran, und aus welcher Motivation heraus? Kann Gott überhaupt existieren und kann man seinen Glauben an ihn verlieren? Solche Fragen diskutieren hier nicht nur fromme Leute aus dem Volk, deren Familien ausgelöscht werden, sondern auch Armeeoffiziere, die nach einem arbeitsreichen Hinrichtungstag zusammen eine Flasche Johnny Walker leeren, Geheimdienstfunktionäre, in denen sich ein Gewissen regt oder Gefangene im Knast von Palmyra, die kein anderes Schicksal zu erwarten haben als die eigene Hinrichtung.

Zeitlos und weit über Syrien hinausweisend ist die Beschreibung eines Stasi-Regimes, die hier immer anhand von Einzelschicksalen und dem Handeln von skrupellosen Charakteren erfolgt. Die Spannung im Buch bricht schon deswegen nicht ab, weil man zumindest immer wissen will, wie es mit dem Arzt und seinem geretteten Sohn einerseits und dem Hauptmann andererseits weitergehen wird (gegen Ende kehrt der Sohn mit seinem leiblichen Vater nach Hama zurück). Ebenso wenig kann man von Stellen wie der lassen, wo Sulaiman zum ersten Mal ins Allerheiligste des Präsidentenpalastes vorgelassen wird und dem Präsidenten senior persönlich begegnet. Auch hier verliert jemand seinen Glauben: Den an die Allmacht und Weisheit des „Präsidenten auf ewig“, so sein damaliger offizieller Titel in Syrien.

30 Jahre umfasst der Handlungszeitraum dieses bemerkenswerten Romans von Fawwaz Haddad, und er greift in Exkursen bis ins Jahr 1970 aus. Er kann dadurch nicht kurz sein, und er muss zudem politische Entwicklungen in Syriens Nachbarschaft mit aufnehmen: Den libanesischen Bürgerkrieg etwa, den das Assad-Regime zum Anlass nahm, seinen Einfluss auszuweiten und durch den Sulaiman ein weiteres Mal aufsteigt.

Einen besonderen Sog entwickeln die Szenen, in denen die hohen Militärs des Assad-Regimes sich 2011 auf die Entwicklungen im Gefolge der Umstürze in Tunesien und Ägypten vorbereiten. Sulaiman macht sich zu Recht Sorgen: Dem Volk ist nicht zu trauen, und wenn man ihm Zugeständnisse macht, wird das Regime, das auf Ausplünderung und Privilegien beruht, ins Wanken geraten, zudem würde eine unabhängige Justiz jemanden wie ihn nicht schonen. Alles hängt nun am Präsidenten junior. Wird er in seiner lange erwarteten Rede auf die Forderungen des Volkes eingehen? Für diesen Fall kündigt Sulaiman im engen Kreis an, er werde ihn persönlich liquidieren. Haddad beweist hier eine mutige und zugleich doch wieder realistisch anmutende Fantasie!

Doch Assad erklärt den Aufstand öffentlich zu einer von außen gesteuerten Verschwörung, die man hart niederschlagen werde. Das Massaker von Hama wiederholt sich in ganz Syrien, und Sulaiman ist scheinbar gerettet. Doch jemand hat seinen ausgesprochenen Mordplan auf Band mitgeschnitten; seine Konkurrenten im Apparat können ihn damit fein aus dem Weg räumen. Er wählt die Variante erzwungener Selbstmord.

„Die syrischen Feinde“ ist ein Roman über einen Staat, den die Bevölkerungsgruppe der Alawiten als Beute betrachtet, der durch Berufskorrupte von innen zerfressen wird, und über einen in jeder Hinsicht schwachen Präsidenten, der eher gesteuert wird denn dass er selbst entscheidet, der aber auch nicht die Größe hat, sich seinen Generälen entgegenzustellen. Hier wird zugleich erklärt, welche Rolle jene Alawiten, denen Assad entstammt, in Syrien spielen, und warum sie ehrliche Angst davor empfinden, die Macht aus der Hand zu geben. Selbst Intellektuelle der Volksgruppe können sich dem Konfessionalismus nicht entziehen. Der im Grunde regimekritisch eingestellte Arif drückt es so aus: „Der Präsident ist ein Produkt des Regimes, und egal wer von beiden Zugeständnisse macht, verlieren werden sie beide. Und die Alawiten sind, ob sie wollen oder nicht, in ihrer Gesamtheit Teil dieses Regimes.“

Der Aufbau ist in seinem Wechsel zwischen der Erzählperspektive Erste Person und Allwissender Erzähler immer nachvollziehbar. Auch Liebe ist im Spiel, wenn auch überwiegend in der Variante Eifersucht, Rachsucht und Vorteilssuche. Die erste Geliebte Sulaimans, die dessen Avancen nicht erwidert, weiß nicht, dass sie damit dazu beitragen wird, Assads Macht abzusichern, denn Sulaimans Verrat ist nichts anderes als Rache an ihrem Vater, der die Heirat nicht zugelassen hat. Und Lamis weiß nicht, dass ihr erster Freund von einem Geheimdienstoffizier zum Krüppel gemacht wurde, ebenso wenig, dass ihr zweiter Freund nicht von Islamisten, sondern von Kollegen aus dem Apparat liquidiert wurde. Immerhin ist sie es nun, die Männer für ihre Zwecke nutzt. Sulaiman ist nur einer von vielen ihrer Geliebten, und seine Rolle ist es, ihr einen schwunghaften Schmuggelhandel zu ermöglichen.

Die arabische Kritik hat Haddads Werk begeistert kommentiert und ihn als ein Epos des modernen Syrien bezeichnet. Es ist ein fiktiver Roman in 19 Kapiteln, der nicht näher an der Wirklichkeit sein könnte. Syrien ist nicht nur eines von zwanzig arabischen Ländern, es ist das Mentekel des zivilisatorischen Absturzes einer Weltregion, der auch den Westen verändern wird, nicht nur durch die immer zahlreicher einströmenden Flüchtlinge.

Günther Orth